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EÖ-Rede „Gesichtspunkte“
30. Juni 2018, Verein für Kunst und Kultur Eichgraben
von Hartwig Knack

Der Begriff „Gesichtspunkt“ eröffnet unglaublich viele Sinnzusammenhänge. Wir können „Gesichtspunkt“ mit Betrachtungsweise oder Standpunkt übersetzten. Ein Gesichtspunkt kann auf der einen Seite eine Tatsache sein, oder auf der anderen Seite die persönliche Meinung abbilden, einen Aspekt oder eine Vermutung beschreiben. Da geht es um Ansicht, Auffassung, Blickwinkel oder Perspektive. Es ist also nicht ganz einfach diesen Begriff zu fassen, der sehr facettenreich ist und sich eigentlich eher einer eindeutigen semantischen Festlegung entzieht.

Exkurs:
Hannah Arendt, politische Theoretikerin und Publizistin, musste 1933 aus Deutschland emigrieren und in die USA gehen. Sie war Jüdin. Arendt war jahrzehntelang befreundet mit dem Psychiater und Philosophen Karl Jaspers (in der Nazizeit mit Publikationsverbot belegt), dem 1958 der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen werden sollte. Der Stiftungsrat trat an Hannah Arendt heran, zu diesem Anlass zu sprechen.
Der Gesichtspunkt, aus dem heraus Hannah Arendt die Einladung ausgesprochen wurde die Laudatio zu halten war nicht etwa, weil sie fachlich kompetent war, weil sie Jaspers schon über 50 Jahre lang kannte und sich mit seinen Schriften auseinandergesetzt hatte, sondern weil sie eine Frau war. Sie möge bitte die Laudatio als Frau halten, hielt Arendt in einer Notiz fest. Auf diese Dümmlichkeit und Ignoranz reagierte Arendt natürlich mit einer Absage und der sinngemäßen Bemerkung: „Der Gesichtspunkt dass ich eine Frau bin, soll mich legitimieren, die Laudatio zu halten? Sommersprossen sind auch Gesichtspunkte.“ Nach einigen Gesprächen mit Karl Jaspers hat sie die Festrede ihm zu Ehren dann doch gehalten.

Dieser kurze Exkurs ist insofern relevant, weil sich nicht nur zu Zeiten Hannah Arendts (hier im Fachbereich der Philosophie und Psychiatrie), sondern nach wie vor auch heute Frauen in vermeintlichen Männerdomänen trotz hoher Qualifikation nur schwer Gehör verschaffen können.

Judith Wagners Ausstellungsbeitrag beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Ungleichbehandlung von Frauen und Männern. Wagner arbeitet im Bereich der Bildhauerei, einer klassischen Männerdömäne innerhalb der bildenden Kunst. Ihre großen Köpfe – Porträts dreier befreundeter Künstlerinnen – zielen darauf ab, Frauen in der Kunst ein Gesicht zu geben. Wie Fragmente antiker Skulpturen liegen die Köpfe der Künstlerinnen da, die archäologisch gehoben oder entdeckt wurden und nun in ihrer Monumentalität und Relevanz wahrgenommen und vor uns hingestellt werden.

Martina Funder legt den Fokus in ihren drei Wandarbeiten auf die Münder von Frauen, die – mit Lippenstift akzentuiert – im Erscheinungsbild, im Auftreten von Frauen nur einen singulären Gesichtspunkt bilden. Martinas Werke zeigen sich als Fragmente sehr dezent. Der rote Lippenstift fehlt; die Glasur ist eher matt und grau. Die Arbeiten sind im Hinblick auf die Ausstellung entstanden und entsprechen Martina Funder Persönlichkeit in gewisser Weise. Eher zurückhaltend und schreiende Farben vermeidend.

Irene Schnabl lebt in Heilbronn und hat einen ganzen Transporter voller Skulpturen und Plastiken mitgebracht. Gefertigt aus Sandstein ihrer Heimat Heilbronn, aus Holz, Speckstein oder auch Carrara-Marmor. Die Künstlerin begibt sich oft in Steinbrüche und findet Steine (oder auch manchmal beim Spaziergang am Straßenrand liegend), die sie ansprechen. Das kann unterschiedliche Gründe haben: Die Maserung im Stein, eine wechselnde Farbigkeit vielleicht oder die äußere Form. Die Beschaffenheit gibt also die daraus irgendwann einmal entstehende Figur vor. Schnabl geht nicht los und kauft einen bestimmten Steinquader, um einen Kopf herauszuarbeiten. Der Stein müsse vorab mit ihr sprechen, wie sie in einem Gespräch erklärt. Die Bewegung im Stein oder eine Zweifarbigkeit z.B. greift die Künstlerin auf, nimmt den vorgegebenen Schwung im Material auf und entwickelt auf diesem Weg ihre Figuren, die manchmal an symbolische Theatermasken erinnern, die für die traurige Tragödie oder lustige Komödie stehen.

Masken finden wir auch in einigen der Radierungen und Acrylbildern von Gerhard Gepp, der nicht nur als Maler, sondern auch als Grafiker und Illustrator arbeitet. Unter dem Titel „Poetische Satire“, den auch eine seiner Publikationen trägt, sind die ausgestellten Arbeiten zusammengefasst. In den Radierungen und Malereien Gepps spielt immer ein unterschwelliger Humor, der in Richtung Karikatur geht, mit, wobei es nur selten der Fall ist, dass Klarheit über eine konkrete Aussage herrscht. Außerordentlich vielgestaltig ist seine Sicht auf die Dinge, die oft durch aktuelle Geschehnisse angeregt sind.

Ingrid Loibls großformatige Batik ist ebenfalls speziell für die Ausstellung angefertigt worden. Ingrid arbeitet viel in der Technik der Batik, verwendet unterschiedlichste Stoffe, vornehmlich Baumwolle oder auch Leinen. In dieser bis zur Decke reichenden Arbeit sind wir maskenhaften Gesichtern ausgesetzt. Die Fülle der stilisierten Gesichter zeigt unterschiedlichste Gemütszustände: Wir sehen grinsende, lachende, erstaunte oder auch traurige Gesichtsausdrücke. Oder eben Gesichtspunkte. Die meisten der Gesichter sind tatsächlich kreisrund ausgeführt, erinnern ein wenig an Smileys oder Emojis und spiegeln vielleicht den eingangs erwähnten Facettenreichtum des Begriffs „Gesichtspunkt“ nicht nur inhaltlich, sondern auch formal.

Annemarie Baumgarten legt wie Ingrid Loibl viel Wert auf die Materialität. Sie collagiert ihre Werke: Japanpapiere, unterschiedliche Gazestoffe und Strukturgewebe, Papier aus der Himalaya-Region kommen zum Einsatz. Die Arbeiten der Künstlerin sind charakterisiert durch eine zarte Farbigkeit, erzielt durch die Verwendung von Aquarell, Farbpigmenten, Kreiden, Acrylfarben u.a.m. Die Motive haben etwas träumerische, spirituelles und gehen vielfach zurück auf Erlebtes, auf Geschichten, auf Begegnungen, die der Künstlerin in Erinnerung geblieben sind, die sie persönlich betreffen oder betroffen machen.

Ähnlich lebendige Oberflächen wie die der Werke von Annemarie Baumgarten finden wir in den Druckgrafiken von Günter Egger. Der Künstler verwendet mit Vorliebe alte Druckplatten, in denen sich z.B. durch jahrelange Lagerung und die bloße Manipulation der Platten Kratzer oder Verletzungen finden. Diese Zeitspuren werden integriert in die neuen Motive. „Zeitgesichte“ heißt eine seiner umfangreichen Serien, an der Günter seit Ende der 1970er Jahre arbeitet. Es sind Fotos aus Tageszeitungen und Magazinen, die ihm aus unterschiedlichen Gründen auffallen und als Grundlage seiner Radierungen dienen. In einem Blatt sehen wir im unteren Teil z.B. den Kopf bzw. Helm eines Eishockeyspielers, oben findet sich ein Skifahrer. In diesem Fall hat Günter eine Druckplatte von 1978 genommen (mit dem Eishockeyhelm) und den Skifahrer im Jahr 2009 überarbeitend ergänzt. So entstehen skurrile Motivkombinationen, die manchmal ins Surreale gehen. Die Serie der „Schwimmer“ ist entstanden, weil Günter großes Interesse an den verzerrten Antlitzen der Profischwimmer hatte, wie sich deren Gesichter unter Wasser oder gerade aus dem Wasser auftauchend darstellen. Ein Blatt fällt inhaltlich heraus: Jenes mit dem Titel „Waterboarding“. Es zeigt Günters Anspruch, sich in seiner Kunst immer auch politisch zu äußern.

Kurt Rendl zeichnet und fotografiert. Der Künstler schafft Objekte und Assemblagen und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Porträtzeichnung. Ausgestellt sind hier seine comichaften „iPhone drawings“, die den Prinzipien der Karikatur folgen. Zeichnungen mit einem Eingabestift am Handybildschirm angefertigt und auf hochauflösendem Fotopapier ausgedruckt.

Rendl zeichnet nicht nur Prominente wie den Hollywoodschauspieler Clint Eastwood oder den ehemaligen Kardinal Hans Hermann Groër, der aufgrund von Kindesmissbrauchsvorwürfen seines Amtes enthoben wurde. Rendl zeigt auch Personen, die eine bestimmte Gruppe von Menschen repräsentieren wie z.B. Flüchtlinge oder schwarzafrikanische Menschen, die mit einem Albinismus zur Welt gekommen sind und die in manchen Ländern Afrikas entweder von ihren Familien ausgestoßen oder aus Aberglauben gejagt und getötet werden, weil ihre weiße Haut oder sogar Körperteile ihren Besitzen Macht verleihen sollen. Auch in diesen Werken finden sich unterschwellige politische Statements.

Elisabeth Kallinger hat für die Ausstellung zwei Selbstporträts und zwei Porträts ihrer Tochter ausgewählt. Besonders spannend finde ich das Selbstbildnis als Schwarzafrikanerin. Meine erste Assoziation war: Identifikation mit den nach Europa Geflüchteten oder Solidarisierung mit ihnen. Jedenfalls ist sie als Afrikanerin durch die Präsentation gleichsam in die Familie integriert.

Alois Junek hat schon relativ früh begonnen, mit Computerprogrammen zu arbeiten. Junek zeigt uns ebenfalls Familienporträts. Mutter, Vater und er selbst in jungen Jahren sind in verpixelter Manier dargestellt. Von nächster Nähe sind nur die einzelnen Farbquadrate oder Farbflächen zu erkennen. Je größer die Distanz, desto klarer kristallisiert sich ein gegenständliches Motiv heraus. Seine Bilder interpretiere ich als eine Reaktion auf gesellschaftliche oder technologische Umbrüche im Zeitalter der Digitalisierung. Genaugenommen haben wir es hier mit Bildmosaiken zu tun. Das Konzept eines Mosaiks ist seit tausenden Jahren hinlänglich bekannt: Durch Zusammenfügen verschiedenfarbiger Einzelteile entstehen Muster oder Bilder. Von weitem betrachtet verschmelzen die kleinen Teile bzw. die Einzelbilder zu einem großen Gesamtbild.

Wilbet Neubarth zeigt im Gegensatz zu den großformatigen Köpfen oder konkreten Familienbildnissen Juneks Köpfe, die mehr oder minder aus Farbspuren und Liniengeflechten geschaffen sind. Die fast zeichenhaft und in zarter Expressivität zu Papier gebrachen Köpfe scheinen sich gleichsam aufzulösen wie in einem Schneegestöber. Die Blätter, allesamt für die Ausstellung angefertigt, erinnern in ihrer Anmutung an die Figuren und Köpfe von Annemarie Baumgarten, die zuweilen wie hinter einem Schleier versteckt geheimnisvoll durchscheinen.

EÖ-Rede „Gesichtspunkte“
30. Juni 2018, Verein für Kunst und Kultur Eichgraben
von Hartwig Knack