Dr. Udo Stenz
Einführung zur Ausstellung Metamorphosen auf Mutter Erde
Kriftel, 23. November 2009

Meine sehr verehrten Damen,
sehr geehrte Herren,
liebe Freunde,

es ist mir eine Freude und eine Ehre, heute mit Ihnen gemeinsam mit ein paar Überlegungen in die Ausstellung einer Künstlerin einzutreten, die mit meiner Familie seit vielen Jahren in Freundschaft verbunden ist, Annemarie Baumgarten.

Das Ziel einer solchen Einführung ist es nicht und kann es gar nicht sein, Kunstwerke zu erklären. Sie kann allenfalls einen bescheidenen Beitrag dazu geben, die Sinne zu schärfen, und einen möglichen Weg der Annäherung vorschlagen an das, was sich uns hier vorstellt.

Was ist Ihnen spontan in den Sinn gekommen, als Sie den Titel dieser Ausstellung von Annemarie Baumgarten und Hung gelesen oder gehört haben?

Mir kamen zunächst ein literarisches und ein Werk der Bildenden Kunst in den Sinn, die miteinander zusammen hängen. Zum einen die Metamorphosen von Ovid (43 v. - 17. n. Chr.) In ihnen beschreibt der Autor viele mythische Begegnungen zwischen Göttern, Halbgöttern und Menschen, die zu Verwandlungen, zur Veränderung der Gestalt, der Morphé, führen. Der eine hält nicht an seiner Gestalt fest, sondern lässt sie los und nimmt (meist zu einem bestimmten Zweck) die Gestalt des anderen an. Das ist in etwa die Bedeutung des Wortes: Metamorphose. Und dann sehe ich Gian Lorenzo Berninis (1598 – 1680) Skulptur „Apollo und Daphne“ vor mir, die eine dieser Ovidischen Szenen darstellt. Der junge Gott Apollo stellt begierig der schönen Daphne nach, die sich ihm noch gerade so entziehen kann, indem sie die Gestalt eines Lorbeerbaumes annimmt. Vielleicht kennen Sie das Werk: Bernini ist es mit unvergleichlicher Meisterhaftigkeit gelungen, diese dramatische Bewegung in Marmor zu meißeln. Es ist eigentlich paradox und gerade deshalb eine der größten Herausforderungen der bildenden Kunst, nicht nur eine Bewegung als solche einzufangen – allein das wäre schon schwierig genug – sondern gerade ihren entscheidenden Moment, den wichtigsten, die einzigartige Sinnmitte, den „Kairós“. Hier erscheint die Bildende Kunst übrigens im Nachteil gegenüber der Literatur oder auch der Musik. Sie hat scheinbar nur die drei Dimensionen der Plastik zur Verfügung. Literatur und Musik hingegen haben die vierte Dimension. Sie stellen nicht nur da, sondern sie haben einen Verlauf. Sie können sich Zeit lassen.

Metamorphosen, wie sie Ovid beschreibt und wie Bernini sie abbildet, suchen Sie in diesen Räumen vergeblich. So scheint es zumindest. Denn Sie entdecken kaum figürliche Darstellungen in Frau Baumgartens Bildern und schon gar keine Figur, die die Gestalt eines anderen annimmt. Was in den hier ausgestellten Werken zuallererst ins Auge fällt, sind ihre Farben. In den Farben und durch die Farben gestaltet sich Metamorphose, und diese in zwei Dimensionen. Zunächst in der Ebene des Bildes selbst. Farben und Formen durchdringen einander, geraten zueinander in Beziehung, gestalten einander, verändern einander. Dieses wechselseitige Durchströmen ist es, was die Bilder dieser Ausstellung ausmacht. Die Farbe, die Annemarie Baumgarten in fast tänzerischer Leichtigkeit aufträgt, hält sich nicht fest, fixiert sich nicht, scheinbar trocknet sie nicht an. Sie hält sich offen für das Andere, sie durchdringende und mit ihr zu etwas Neuem, zu neuen Farbtönen Verspielende. Da ist für eine beengende Form kein Platz mehr, kein Raum mehr für eine abgegrenzt bleibende Gestalt. Die Gestalt, die Morphé, braucht das Andere, um sich immer wieder neu wechselseitig zu durchdringen.

Einzelne gegenständliche Darstellungen in den Bildern oder Ahnungen davon findet man durchaus; indessen werden sie aufgefangen und aufgenommen in dieses Spiel, sie erhalten ihren Platz und werden doch nicht angekettet, sondern verbleiben in ihrer Freiheit. Nichts ruht abgeschlossen und selbstgefällig in den Bildern, nichts erhebt den Anspruch der Perfektion für sich, sondern es scheint eine Dynamik des sich Los- und auf das andere Einlassens, des wechselseitigen Sich-Öffnens.

Und dann geschieht – zweitens – Metamorphose über das Bild hinaus, aus ihm heraus zum Betrachter hin. Die Farben fallen ins Auge und zeigen dabei ihre Fähigkeit, uns etwas zu zeigen und ansichtig zu machen gleichsam als eine Sprache des Gegenstandes. Farbe – und ihnen zugrundeliegend das Licht – sind das Medium, wodurch wir uns mit unserem Geist ein Bild machen können von dem, was wir sehen. Je weniger umrissen und scharf der Gegenstand ist, der sich uns in seinen Farben zeigt, umso weniger drängt er sich auf, umso mehr nimmt er sich zurück. In den Mittelpunkt rücken der Vorgang des Wahrnehmens selbst und das Bild, die Anschauung, die Intuition, die unseren Sinnen und unserem Geist daraus gegeben wird. So verliert sich das Sujet des Bildes gleichsam in den Betrachter hinein und liefert sich ihm aus: Hingabe. Der Betrachter soll nicht eingefangen und beeindruckt werden von einem Gegenstand. Er wird vielmehr auf den Vorgang des Wahrnehmens selbst verwiesen. Er darf und muss über das Kunstwerk verfügen, darf ihm Gestalt, Morphé geben. Metamorphose als Hingabe.

Das Bild, das Kunstwerk wird damit zum Geschehen und tritt in einen Dialog mit dem Betrachter. Und hier kommt dann doch noch eine vierte Dimension in das Werk der Bildenden Kunst: Es wird nicht festgehalten, bildlich eingefroren in der Gleichzeitigkeit der Darstellung, sondern es gibt sich frei, hinein in ein Geschehen, das immer wieder neu ansetzt, immer wieder neue Prozesse prägt und immer wieder neue und einzigartige Augen-Blicke schenkt. Man muss nicht mehr fieberhaft nach dem einen Kairós im Leben suchen, sondern jeder Augenblick ist ein Kairós für sich.

Eigentlich gilt das für jedes Kunstwerk; und noch mehr eigentlich gilt es für unser Leben. Doch allzu oft wird es vergessen. Annemarie Baumgartens Schaffen hingegen lebt geradezu davon.

Wer ihr Werk aus den letzten 25 Jahren kennt – und aus dieser Perspektive kann ich persönlich sprechen –, der kann sehen, wie sich dieses Schaffen bis hierher entwickelt hat. Frau Baumgarten hat zwar nie ihre Gegenstände nur einfach natur- oder originalgetreu abgebildet, damit sie ein geschlossenes, in sich ruhendes Ganzes würden, sondern sie immer offen gestaltet und damit einen Raum geschaffen, der den Betrachter fordert. Dennoch lebten ihre Sujets von Umrissen, Konturen und sofortiger assoziierender Erkennbarkeit anhand der klassischen Themen Landschaft, Stilleben, Portraits oder ähnlichen. Nach und nach gelingt es ihr, diese Formen und Konturen zu überwinden. Sie wagt die Abstraktion zunächst von dem Bildgefüge als solchem – immer mehr setzt sie verschiedene Motive in einen neuen Zusammenhang und erschafft damit eine neue Welt. Und dann wagt sie selbst die Abstraktion, oder besser gesagt das Loslassen. Die Zurückhaltung beim Figürlichen macht nun immer mehr die Beziehung zum Betrachter möglich und setzt auf den dialogischen Vorgang des Wahrnehmens und Erkennens selbst in einem Fluss, einem Strömen vom Werk hin zum Betrachter. Ein entscheidender Schritt im künstlerischen Schaffen von Annemarie Baumgarten dürfte deshalb die Gestaltung von Glasfenstern sein, die sie seit Ende der 80-er Jahre in Angriff genommen hat. Das Glasbild lebt und atmet gleichsam mit dem Durchströmt-werden, dem Hin- und Herfließen von Licht und Blick.

Bisher habe ich im Wesentlichen nur über formale Aspekte der hier zu sehenden Werke gesprochen, ohne auf Inhalte oder Titel einzugehen. Aber wenn es so ist, wie Hugo von Hofmannstal sagt, dass die Form das Problem erledigt, dann erschließen sich die Aussagen der Werke von selbst. Der beschriebene Umgang der Künstlerin mit den Farben, Formen und Materialien ist die Grammatik, in der Annemarie Baumgarten nun ihre Ausdrücke findet. Metamorphosen auf Mutter Erde. Es geht ihr nicht um ein verspieltes Experiment. Die Themen in Baumgartens Werk, die Titel, die sie ihnen gibt, sind geerdet, haben mit uns Erdenwesen zu tun, sprechen uns an, fordern uns heraus. Und sie verankern in sich in einer Mutter. Mutter Erde ist hier kein verträumt-romantischer Begriff für Universalität. Sie ist diejenige die schenkt, die Gestalt gibt, aus sich heraus frei setzt, loslässt, und doch das alles birgt in einer Beziehung. Sie macht Platz, sie wird arm, aber in ihrer Armut rein. Sie wird zu einer Leere, die gerade erst eine Fülle ermöglicht.

Was Annemarie Baumgarten mit Farben flächig ausdrückt, setzt ihr kongenialer Künstlerkollege Hung plastisch um. Seine Skulpturen setzen sich eigentlich erst im Geist des Betrachters zusammen aus Leere und Fülle. Gerüste aus Stäben deuten etwas an und laden den Betrachter – sehr erfolgreich – ein, in dem Nichts, das sie umspielen, das Werk zu erkennen. Hung gelingt es sowohl technisch als auch gestalterisch in nie da gewesener Weise, dem Nichts, der Leere, die Sinnlosigkeit zu nehmen und ihnen eine Aussage zu entlocken.

Wenn es uns gelänge, dieses Anliegen der Kunst, das uns hier vor Augen geführt wird, von den Kunstwerken zu lösen und in unser Leben hineinzutragen, würden sich ganz neue Perspektiven eröffnen. Die Hingabe bis hin zum Nichts-Sein fällt nicht in eine Selbstaufgabe und ins Dunkel hinein, sondern bringt Neues, Unerhörtes, Ungeahntes zum Vorschein und ergibt neuen Sinn. Der Religionsphilosoph Bernhard Welte spricht vom Licht des Nichts. In der Tat zeigt sich die religiöse Dimension der Kunst. Kunst ist religiös, wie Friedensreich Hundertwasser sagt, denn sie setzt eine Beziehung frei, die nichts auslässt, das Nichts, die Leere zulässt, sie öffnet auf die Fülle hin und offen steht für Offenbarung.

Das gilt ganz besonders für Annemarie Baumgarten und für Hung. Die Inspiration zu ihrem Werk gründet in der Metamorphose schlechthin: In der Menschwerdung Gottes, in dem Hinabsteigen des Sohnes aus dem Vater durch die Mutter im Heiligen Geist auf die Erde. Es ist der Gott, der nicht an seiner Form, an seiner Morphé festhält, der sich zum Nichts macht und die armselige Gestalt des Anderen, des Menschen annimmt. Es ist der Gott, der sich erdet, indem er sich eine Mutter aussucht, in ihr den Raum nimmt, den sie ihm gibt. Dieses Empfangen Gottes, diesen Mut, ihn beim Wort zu nehmen und ihm Gestalt zu geben, hält das Schaffen unserer beiden Künstler von innen her zusammen. Man muss ihren Glauben nicht teilen, um ihre Aussage zu verstehen. Aber von dieser Wurzel her wird deutlich, dass Kunst die drei großen Ideale verwirklicht: Sie ist nicht nur schön. Sie ist nicht nur gut. Sondern sie ist auch wahr.


Einführung in die Ausstellung


Presse / Echos